Das Geschenk der winterlichen Stille
In einer kleinen verschneiten Hütte, im Herzen des tiefsten Waldes, loderte ein behagliches Kaminfeuer. Von Zeit zu Zeit warf es knisternde Funken in die Höhe.
Während draußen die glitzernden Schneeflocken sanft auf die Erde fielen, saßen drinnen bei warmem Licht drei eindrucksvolle Gestalten beisammen.Der Weihnachtsmann lehnte in einem gemütlichen Sessel, seine Hände fest um eine Tasse heiße Schokolade gelegt. Neben ihm auf einem Schemel hatte Knecht Ruprecht Platz genommen. Im Schein des Feuers schimmerte sein zottiger, brauner Mantel, und seine wachsamen Augen funkelten in der Dämmerung.
Ihnen gegenüber, in einem hohen Lehnsessel aus weichem Samt, saß das Christkind. Seine sanfte Gestalt leuchtete wie ein Stern im Halbdunkel, und dennoch wirkte sein Gesicht sorgenvoll, die Stirn in nachdenkliche Falten gelegt. Es war still in der Hütte. Nur das Knistern des Feuers und das gelegentliche Klirren einer Schneeflocke am Fenster waren zu hören. Ein Duft nach Zimt und Tannengrün erfüllte die Luft.Das Christkind sah gedankenverloren in die Flammen und seufzte tief. „Ich weiß nicht mehr, wie lange ich das noch ertragen kann“, murmelte es bedrückt, und seine Stimme klang fast wie ein ferner Glockenklang – gebrochen und müde. „Früher einmal verstanden die Menschen, dass Weihnachten ein Fest der Liebe und des Friedens ist. Es ging um das Geben und das gemeinsame Beisammensein. Aber heute? Es wird immer mehr ein Habenwollen.“
Der Weihnachtsmann, ein beleibter, gutmütiger Herr, hob seinen Kopf und schaute das Christkind sorgenvoll an.
„Jahr für Jahr gehe ich hinab zu den Menschen“, fuhr das Christkind fort, „und Jahr für Jahr wird es schwerer, ihnen die wahren Geschenke zu bringen. Liebe, Frieden, Gesundheit, und Hoffnung – ich habe das Gefühl, sie wollen sie nicht mehr.“
Der Weihnachtsmann nickte betrübt und strich sich über den langen weißen Bart. „Ja“, brummte er, „es ist, als wären die Herzen vieler Menschen verhärtet. Sie rennen durch die Städte, ihre Köpfe voller Wünsche, die sie kaufen können und erwarten nur noch Geschenke, die glänzen und teuer sind. Immer weniger scheinen die wahre Bedeutung des Weihnachtsfestes zu schätzen. In der ganzen Hektik geraten die ursprünglichen Gaben Liebe, Frieden und Hoffnung – immer weiter in Vergessenheit. Dabei sind das die wahren Schätze, die wir bringen wollen.“
Knecht Ruprecht schnaubte und griff nach seinem Krug mit heißem Apfelwein. Er starrte mit ernster Miene in die Glut. „Und es wird immer schlimmer“, knurrte er. „Nicht nur die Habgier ist es. Immer mehr Menschen behandeln einander mit wachsender Kälte. Sie führen Kriege, sie zerstören die Natur, sie werden untereinander immer zerrissener und bekriegen sich wegen der kleinsten Unterschiede.“
Dem Christkind rann eine einzelne Träne über die Wange und zersprang auf dem Kragen seines weißen Gewandes in viele kleine Tröpfchen. „Und das nicht nur zu Weihnachten. In der ganzen Welt fehlt es an Mitgefühl und an echter Liebe.
Frieden ist für unzählige Menschen nur noch ein Wort. Es ist, als hätten die meisten vergessen, was das wirklich bedeutet.“„Da gebe ich dir recht“, brummte Knecht Ruprecht. „Für eine beachtliche Anzahl von ihnen zählt nur noch, was sie anfassen, besitzen und zeigen können. Sie kaufen sich selbst Geschenke, nur um das Gefühl zu haben, mehr als andere zu haben. Sie messen ihren eigenen Wert an Dingen, die schnell vergehen.“ Knecht Ruprecht redete sich immer mehr in Rage: „Die Welt ist voller Konflikte, voller Unruhe. Die Menschen streiten sich um Land, um Macht, um Stolz. Doch keiner kämpft für den Frieden in sich selbst. Was ist nur aus ihnen geworden?“
Das Christkind seufzte tief und sah in die Flammen, die wie kleine Sterne vor ihm tanzten. „Es gibt nicht wenige, die kaum noch wissen, wie sie zusammen feiern sollen, ohne sich im Lärm und Konsum zu verlieren. Die Botschaft von Weihnachten wird von Jahr zu Jahr mehr zu einem bloßen Gerede.“Eine Weile herrschte bekümmertes Schweigen, und alle drei blickten in die Tiefe des Feuers, als könnte ihnen die Glut eine Antwort geben.
Der Weihnachtsmann strich sich nachdenklich über den Bart. „Aber wir müssen doch irgendetwas tun können. Wir dürfen diese Menschen nicht einfach sich selbst überlassen.“ Er blickte ernst zu seinen beiden Gefährten. „Vielleicht müssen wir besonders diesen Menschen die Bedeutung des Festes wieder neu beibringen.“
„Aber wie?“, warf Knecht Ruprecht ein und schüttelte den Kopf. „Selbst Kinder haben oft nicht gelernt, wie es ist, auf ein kleines Wunder zu warten. Manche verlangen immer mehr, immer schneller – und wenn es nicht so kommt, werden sie zornig.“
„Ja, was können wir tun?“, überlegte ebenso das Christkind. „Wenn immer mehr Menschen nur die irdischen Güter würdigen, werden sie irgendwann ohne die wahren Schätze dastehen. Sie werden die Freude, den Frieden und das innere Licht verlieren.“Der Weihnachtsmann schüttelte mit traurigem Blick seinen Kopf. „Und die, die das innere Licht noch haben, könnten die Hoffnung verlieren, dass es von anderen noch angenommen wird und hören im schlimmsten Fall auf, es weiterzutragen.“
Knecht Ruprecht nickte zustimmend. „Ich glaube, viele haben Angst. Angst, dass sie nicht genug haben, dass sie nicht genug sind, und diese Angst lässt sie immer mehr verlangen, ohne Rücksicht auf andere.“Das Christkind dachte eine Weile nach, und endlich sprach es, leise und voller Sorge: „Vielleicht … müssen wir ihnen dieses Jahr etwas anderes schenken.“
„Etwas anderes?“, erkundigte sich der Weihnachtsmann erstaunt.
„Ja“, antwortete das Christkind. „Dieses Jahr bringen wir keine glänzenden Gaben. Keine Spielzeuge, keine Schmuckstücke, keine elektronischen Geräte. Das können sie sich alles selber kaufen und sie tun es ja auch zu Genüge.“
Das Christkind sprach jetzt mit einer neuen, festen Entschlossenheit in der Stimme. „Vielleicht sollten wir ihnen nur noch eines schenken: Zeit, in der sie innehalten können, Momente der Stille in der sie zur Ruhe kommen dürfen, ohne Ablenkungen, ohne das ewige Wollen. Zeit, in der sie nach innen schauen. Abende der Besinnung, Nächte der Stille – das ist das wahre Geschenk, das gerade die brauchen, die durch die angeblich so ruhige und besinnliche Zeit hetzen. Denn nur in der Stille können sie sich selbst und die anderen wirklich wahrnehmen.“Der Weihnachtsmann und Knecht Ruprecht sahen das Christkind nachdenklich an. „Eine Stille also“, murmelte der alte Ruprecht. „Das wäre schon das, was sie dringend benötigten. Aber sie könnten sich diese Zeit doch einfach nehmen, sie ist doch da! Warum tun sie es nicht?“ Er schüttelte verständnislos den Kopf.
„Vielleicht, weil sie nicht wissen wie, oder weil sie verlernt haben auf ihr inneres Verlangen nach Stille zu hören,“ überlegte das Christkind. „Vielleicht sollten wir diese Sehnsucht verstärken indem wir ihnen, statt der glitzernden Geschenke, ein Samenkörnchen davon ins Herz pflanzen?“
„Glaubst du gerade die Menschen, die dies am dringendsten bräuchten, können dann fühlen, was ihnen die Stille zu sagen hat? Erwartest du, dass sie es verstehen?“
„Vielleicht nicht alle“, sagte das Christkind sanft, „aber einige werden es. Und wenn nur ein paar Menschen mehr wieder die wahre Botschaft von Weihnachten erkennen, dann können sie ein Licht sein in dieser dunklen Welt. Vielleicht entzündet ein kleines Licht weitere Lichter. Und irgendwann …“ das Christkind lächelte hoffnungsvoll, „eines Tages, verstehen es vielleicht wieder alle.“
Der Weihnachtsmann nickte zustimmend. „Ich finde, das ist eine ausgezeichnete Idee. Wir bringen ihnen die tiefe Sehnsucht nach einem Fest der Stille – nur der Wunsch sich Zeit zu nehmen, für sich selbst und für ihre Lieben. Wenn sie das annehmen können, dann finden sie vielleicht auch wieder die Liebe, den Frieden und die Hoffnung. Und wir bestärken die guten Seelen, die das innere Licht noch haben, ihre Botschaft weiterzutragen und in ihrem Bemühen den erkalteten Herzen und hektischen Gemütern ein Vorbild zu sein, nicht nachzulassen.“Knecht Ruprecht stand auf, seine schwere Gestalt wirkte wie ein riesenhafter Schatten im flackernden Licht des Kamins. „Das wird eine große Herausforderung“, sagte er, „aber es könnte der richtige Weg sein.“
Das Christkind lächelte bedeutungsvoll, und für einen Moment schien das Licht in der Hütte heller zu werden. „Dann lasst es uns versuchen“, flüsterte es. „Ein Weihnachten der Stille! Besser noch ein ganzer Winter der Stille, denn die Hektik die viele Menschen gefangen hält, hört ja nach Weihnachten nicht auf.“So beschlossen die drei, den Menschen in diesem Jahr mit einem winzigen Samenkorn, ein bedeutsames Geschenk zu bringen.
Sie saßen noch lange beisammen, während das Feuer langsam herunterbrannte, und planten eine Zeit, die still und erfüllt von Wärme sein würde.
Und sie waren dabei voller Zuversicht, dass die Menschen im Moment der Ruhe die wahren Schätze des Lebens erkennen würden: die Liebe, die in kleinen Gesten wohnt; den Frieden, der in den Herzen wächst; die Hoffnung, die in den Augen derer lebt, die einander aufrichtig begegnen.Und draußen im Schnee, unter dem sternenfunkelndem Nachthimmel, schien die Welt selbst auf den ersten Funken dieser neuen Hoffnung zu warten.
Melanie Buhl
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In diesem Sinne wünsche ich euch eine ruhige und besinnliche Adventszeit sowie frohe Weihnachten und ein gesundes neues Jahr,
Melanie Buhl
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